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Europäische Kommission beschließt erste Industriestrategie für den Verteidigungssektor

President Of The French National Assembly Visits Kyiv seo

French National Assembly pres. Yaël Braun-Pivet, Mar 24. Global Images Ukraine via Getty Images


Die Europäische Kommission hat zum ersten Mal eine Europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich (European Defence Industrial Strategy – „EDIS“) sowie – als erstes unmittelbares und zentrales Element zur Umsetzung der Strategie – einen Legislativvorschlag über ein Programm für die europäische Verteidigungsindustrie (European Defence Industry Programme – „EDIP“) präsentiert.

Erklärtes Ziel ist es, die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich in der EU zu steigern. Dazu sollen die Mitgliedstaaten „mehr, besser, gemeinsam und in Europa“ investieren und beschaffen. Außerdem beabsichtigt die Kommission, die Ukraine weiter militärisch zu unterstützen und ihre Rüstungsindustrie in die europäische Verteidigungsindustrie zu integrieren.

Im nunmehr dritten Kriegsjahr gerät die Ukraine gegenüber Russland – unter anderem aufgrund von Munitionsmangel – zunehmend in die Defensive. Gleichzeitig wird in den USA sowohl die weitere militärische Unterstützung der Ukraine als auch die Verteidigung der europäischen Verbündeten im Rahmen der NATO zunehmend in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund wächst der Druck auf die EU, die Kapazitäten der europäischen Rüstungsindustrie und die eigene Verteidigungsbereitschaft schnellstmöglich zu erhöhen.

EDIS und EDIP sind ein Versuch, über die anfänglichen (ad-hoc) Notfallinstrumente als Reaktion auf die russische Invasion – wie z.B. dem Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (European Defence Industry Reinforcement Through Common Procurement Act – „EDIRPA“) oder dem Gesetz zur Unterstützung der Munitionsproduktion (Act in Support of Ammunition Production – „ASAP“) – hinauszugehen und die Bereitschaft der europäischen Verteidigungsindustrie langfristig zu verbessern.

Europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich

Obwohl die Verteidigungsausgaben der EU im Jahr 2023 einen Rekordwert von € 270 Mrd. erreicht haben, ist die Kommission mit der derzeitigen Situation nicht zufrieden. Denn sowohl in den einzelnen Mitgliedstaaten als auch in der gesamten europäischen Verteidigungsindustrie bestehen nach wie vor erhebliche Kapazitätslücken. So konnte die EU bis heute nicht einmal die im vergangenen Jahr zugesagten eine Million Artilleriegeschosse an die Ukraine liefern. Als weiterer Schwachpunkt wird die Abhängigkeit von Drittstaaten identifiziert. Mehr als drei Viertel der Rüstungsbeschaffungen der EU-Mitgliedstaaten zwischen dem Beginn der russischen Invasion und Juni 2023 wurden außerhalb der EU getätigt. Die USA sind dabei mit großem Abstand der wichtigste Lieferant. Auch fehlt es an einer gemeinsamen Beschaffung der Mitgliedsstaaten. Zwischen 2021 und 2022 waren nur 18 % der gesamten Rüstungsinvestitionen in der EU kollaborativ. Neben diesen praktischen Problemen gibt es auch rechtliche Schwierigkeiten. Die EU-Verträge verbieten bislang die direkte Verwendung von EU-Geldern für Rüstungsausgaben. Die europäische Rüstungsindustrie fällt jedoch in den Zuständigkeitsbereich der EU. In der Vergangenheit gab es daher bereits Bestrebungen, den Markt für Rüstungsgüter zu regulieren. Diese blieben jedoch bislang weitgehend erfolglos.

Mit der EDIS soll nun die europäische Rüstungsindustrie – im EU-Wording als technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung (European Defence Technological and Industrial Base – EDTIB) bezeichnet – durch gemeinsame EU-weite Investitionen, Forschung, Entwicklung, Produktion und Beschaffung gestärkt werden. Konkret sieht die Strategie vor, dass bis 2030 mindestens 50 % des Beschaffungsbudgets der Mitgliedsstaaten an in der EU ansässige Lieferanten gehen. Mindestens 40 % der Verteidigungsgüter sollen gemeinschaftlich beschafft werden. Zudem soll der EU-interne Handel mit Verteidigungsgütern wertmäßig mindestens 35 % des EU-Verteidigungsmarkts ausmachen. Kurzum: Die Kommission möchte, dass die Mitgliedstaaten Rüstungsgüter künftig gemeinsam und verstärkt in der EU beschaffen.

Um diese Zielvorgaben zu erreichen, sieht die EDIS eine Reihe von Maßnahmen vor:

So sollen die EU-Mitgliedstaaten künftig europäische Verteidigungsvorhaben von gemeinsamem Interesse identifizieren und bei deren Umsetzung zusammenarbeiten. Ein Ausschuss für die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich (Defence Industrial Readiness Board), der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission zusammensetzt, soll eingerichtet werden, um insbesondere die Umsetzung der gemeinsamen Verteidigungsplanung der EU zu ermöglichen und potenzielle europäische Verteidigungsprojekte von gemeinsamem Interesse zu ermitteln. Darüber hinaus schlägt die Kommission einen neuen europäischen Mechanismus für den Verkauf von Waffen vor, der nach dem Vorbild des US Foreign Military Sales Scheme (FMS) den Erwerb von Rüstungsgütern – auch durch zwischen einzelnen Staaten abgewickelte Käufe – erleichtern soll. Schließlich soll mit der Struktur für das Europäische Rüstungsprogramm (Structure for European Armament Programme – „SEAP“) ein neuer Rechtsrahmen für die Mitgliedstaaten geschaffen werden, um die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich über den gesamten Lebenszyklus zu fördern. Für daraus resultierende gemeinsame Beschaffungen wird eine Mehrwertsteuerbefreiung in Aussicht gestellt.

Aufbauend auf bereits bestehenden Instrumenten und Initiativen wie dem Fähigkeitenentwicklungsplan (Capability Development Plan - CDP), der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (Coordinated Annual Review on Defence - CARD) und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit („SSZ“) soll im Übrigen eine effizientere Formulierung des kollektiven Bedarfs der Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich gefördert werden.

Programm für die europäische Verteidigungsindustrie

Parallel zur EDIS hat die Europäische Kommission einen Verordnungsvorschlag für das EDIP vorgelegt. Das EDIP umfasst dabei sowohl finanzielle als auch regulatorische Aspekte zur Umsetzung des EDIS.

Regulatorisch dient das EDIP insbesondere der Implementierung von in der EDIS vorgesehener neuer Maßnahmen (z.B. SEAP, Ausschuss für die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich) sowie der Ausweitung bereits bestehender Maßnahmen (z.B. SSZ).

Für den Zeitraum 2025 bis 2027 sieht der Programmvorschlag € 1,5 Mrd. aus dem EU-Haushalt für Investitionen in den europäischen Verteidigungsindustriesektor vor. Damit soll u.a. die Logik bereits bestehender Notfallinstrumente wie EDIRPA und ASAP sowohl zeitlich als auch vom Umfang her erweitert werden. Das EDIP wird auch die Heranführung von durch den Europäischen Verteidigungsfonds („EVF“) finanzierten Produkten an die Industriereife unterstützen, die auf Kooperationsmaßnahmen in der Forschungs- und Entwicklungsphase (F&E) zurückgehen. Damit weitere Mittel generiert werden können, soll die Europäische Investitionsbank zudem ihre bisherige Politik, die ihr Investitionen in Munition und Waffen verbietet, überprüfen (wie die EU-Kommissare Josep Borrell und Thierry Breton kürzlich auch in einem Gastbeitrag für Die Welt argumentierten).

Ukraine

Eine Sonderstellung nimmt die Ukraine ein. Obwohl sie kein EU-Mitglied ist, gehört die Integration und Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsindustrie ebenfalls zu den ausdrücklichen Zielen der EDIS. Das EDIP soll die Ukraine in die Lage versetzen, sich an der Zusammenarbeit im Bereich der gemeinsamen Beschaffung zu beteiligen und ukrainische Rüstungsunternehmen beim Aufbau ihrer Industrie und bei der Zusammenarbeit mit der europäischen Rüstungsindustrie zu unterstützen. EDIP-Mittel sollen auch zur Unterstützung der industriellen Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine im Verteidigungsbereich sowie der Entwicklung ihrer Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Von besonderer Brisanz sind in diesem Kontext die Bestrebungen, dem EDIP weitere Mittel aus den Zufallsgewinnen des eingefrorenen russischen Staatsvermögens zur Verfügung zu stellen. Hierzu bedarf es allerdings noch eines entsprechenden Ratsbeschlusses.

Aussichten und Einschätzung

Als erster Schritt zur Umsetzung der EDIS muss die EDIP-Verordnung das europäische Gesetzgebungsverfahren durchlaufen und bedarf dabei sowohl der Zustimmung des Europäischen Parlaments als auch des Rates der Europäischen Union. Aufgrund der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 wird dies voraussichtlich erst in der kommenden Legislaturperiode erfolgen. Die EU-Kommission strebt an, dass Parlament und Mitgliedstaaten das EDIP jedenfalls bis Mitte 2025 verabschieden, damit nach dem Auslaufen von ASAP und EDIRPA keine (Finanzierungs-)Lücke entsteht.

Wie realistisch die Verwirklichung der ambitionierten Ziele von EDIS ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit letzter Gewissheit beantwortet werden. Die Umsetzung hängt von vielen Faktoren ab – vor allem von der Finanzierung und der Bereitschaft der Mitgliedstaaten, sich tatsächlich an den Maßnahmen zu beteiligen. Die € 1,5 Mrd. aus dem EU-Haushalt sind angesichts der Kosten für die Beschaffung von Rüstungsgütern nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Da Verteidigungspolitik in erster Linie in nationaler Verantwortung liegt, reagieren die Mitgliedstaaten zudem regelmäßig sehr verhalten auf die Ambitionen der Kommission.

Bei aller berechtigten Skepsis dürften die EU-Mitgliedstaaten angesichts der aktuellen geopolitischen Lage letztlich aber nicht umhin kommen, der Initiative der EU-Kommission – wenn auch in abgeschwächter Form – zuzustimmen und anschießend auch für eine angemessene Finanzierung zu sorgen. Die Kommission meint es jedenfalls sichtlich ernst mit diesem Anliegen. Kurz nach der Vorstellung von EDIS und EDIP hat sie etwa die Finanzierung der bereits bestehenden Programme ASAP, EDIRPA und EVF beschlossen bzw. aufgestockt. Zusammen verfügen allein diese Programme nun über ein Budget von fast € 2 Mrd.

Die angestrebte Stärkung der gemeinsamen europäischen Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern eröffnet der Industrie bisher nicht gekannte Chancen. Stakeholder, die von diesen Maßnahmen und Instrumenten profitieren wollen, sollten die Entwicklungen in diesem Bereich daher aufmerksam verfolgen.

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