Out-Law Analysis Lesedauer: 4 Min.
05 Jan 2022, 11:35 am
Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass Bereitstellungszinsen für ein Darlehen in Niedrigzinsphasen den Vertragszins des Darlehens um mehr als hundert Prozent übersteigen dürfen, ohne dass dies zur Sittenwidrigkeit des Darlehens führt.
Bankkunden, die ein von ihrer Bank bewilligtes Darlehen nicht abrufen, müssen gemäß standardmäßig in Darlehensverträgen enthaltenen Klauseln Bereitstellungszinsen zahlen. In seinem Urteil vom 12. Oktober 2021 hat das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe entschieden, dass Klauseln über Bereitstellungszinsen zum einen der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle entzogen sind, zum anderen der Bereitstellungszins in Niedrigzinsphasen den vertraglichen Darlehenszins um mehr als hundert Prozent übersteigen darf, ohne dass dies eine Sittenwidrigkeit begründet und damit zur Unwirksamkeit des Darlehensvertrages führt.
In dem vor dem OLG verhandelten Fall hatte ein Verbraucherschutzverband gegen eine Klausel geklagt, die eine Bank in ihren Baufinanzierungsverträgen verwendete. Die Klausel besagte, dass der Darlehensnehmer der Bank für jeden Monat, in dem er das Darlehen nicht abruft, Bereitstellungszinsen in Höhe von 0,25 Prozent des nicht abgerufenen Darlehensbetrages schuldet. Das Landgericht (LG) Mannheim hatte in erster Instanz zugunsten der Bank entschieden, wogegen der Verbraucherverband Berufung einlegte. Das OLG schloss sich jedoch dem Urteil des LG Mannheim an und wies die Berufung ab.
In seiner Entscheidung befasst sich das OLG zunächst mit der Frage, ob eine Regelung über Bereitstellungszinsen in einem Darlehensvertrag der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterliegt. Paragraf 307 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist die zentrale Vorschrift zur Inhaltskontrolle von AGB. Er legt fest, dass Klauseln in AGB unwirksam sind, wenn sie den Vertragspartner entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Auf diese Regelung stützte sich der Verbraucherschutzverband in seinem Versuch, vor Gericht zu erwirken, dass die Bank diese Art von Klauseln nicht weiterverwenden darf.
Die Unterlassungsklage des Verbandes blieb jedoch erfolglos. Die Klausel sei der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle entzogen, da es sich nicht um eine Preisnebenabrede, sondern um eine Preisabrede handele. Die Bank erbringe mit der längerfristigen Bereitstellung des Darlehens eine selbstständig bepreisbare Sonderleistung. Zu einer solchen Vorhaltung des Darlehens sei die Bank darlehensrechtlich nicht verpflichtet; vielmehr könne sie das Darlehen ohne die Klausel sofort an den Darlehensnehmer auszahlen. Preisnebenabreden unterliegen der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle – insbesondere durch Paragraf 307 BGB – Preisabreden jedoch nicht.
Dass die Bank während der Bereitstellungsphase verpflichtet sei, für das „Parken“ des Darlehensbetrages bei der Europäischen Zentralbank einen negativen Einlagezins zu zahlen, bekräftigt dem OLG Karlsruhe zufolge nur, dass es sich bei der Bereitstellung um eine Sonderleistung handle, für die auch ein gesondertes Entgelt verlangt werden kann.
Des Weiteren befasst sich das Gericht mit der Frage, ob die fragliche Klausel und insbesondere die darin bestimmte Höhe des Zinssatzes von drei Prozent pro Jahr sittenwidrig gemäß Paragraf 138 Absatz 1 BGB ist. Das OLG kam zu dem Schluss, dass die Klausel nicht sittenwidrig sei, da das für eine Sittenwidrigkeit erforderliche „auffällige Missverhältnis“ zwischen Leistung und Gegenleistung nicht vorliege. Das „auffällige Missverhältnis“ könne nicht damit begründet werden, dass der Bereitstellungszins den Vertragszins um mehr als 100 Prozent übersteige. Bereitstellungs- und Vertragszins stehen nämlich unterschiedliche Leistungen der Bank gegenüber: Der Vertragszins fällt dafür an, dass der Darlehensnehmer das Darlehen und dessen Nutzungsmöglichkeit erhält, der Bereitstellungszins dafür, dass das Darlehen für ihn auf Abruf bereitgehalten wird. Daher können bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit des Bereitstellungszinses nur marktübliche Bereitstellungszinsen als Vergleichswerte dienen, so das OLG. Zur marktüblichen Höhe von Bereitstellungszinsen hatte der Verbraucherschutzverband jedoch nichts vorgetragen.
Doch selbst wenn der Vertrags- und Bereitstellungszins miteinander vergleichbar wären, sei laut OLG allein deshalb kein für eine Sittenwidrigkeit nötiges auffälliges Missverhältnis zu erkennen. Denn der vom Bundesgerichthof (BGH) im Jahr 1990 in seinem Urteil zu Ratenkreditverträgen entwickelte Grundsatz, wonach ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung dann vorliegt, wenn der effektive Vertragszins den marktüblichen Effektivzins relativ um etwa 100 Prozent überschreitet, sei nur ein Orientierungsmaßstab. Eine starre Fixierung auf die 100-Prozent-Grenze lasse bei Niedrigzinsphasen außer Betracht, dass die Kalkulation des Vertragszinses in erster Linie nicht durch die Höhe der Refinanzierungskosten, sondern durch die Aufwendungen für die Risikorücklagen, die Betriebskosten und die Gewinnspanne bestimmt würden. Hierbei müsse die Bank einen gewissen Spielraum haben. Daher sei die relative 100-Prozent-Grenze in Niedrigzinsphasen nicht einschlägig, sondern es komme auf die absolute Abweichung vom Marktzins an. Hierbei seien drei Prozent pro Jahr noch angemessen.
Wenngleich das Urteil als solches im Ergebnis zutreffend ist, erscheint die Begründung nicht in allen Punkten überzeugend.
Wenn – wie das OLG meint – bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit des Bereitstellungszinses nur marktübliche Bereitstellungszinsen als Vergleichswerte dienen dürfen, nicht aber der Vertragszins, dann erfordert dies, dass es einen eigenen „Markt für Bereitstellungszinsen“ gibt, der eine Vergleichbarkeit ermöglicht. Ein solcher Markt ist de facto nicht existent; vielmehr hat sich die Höhe der Bereitstellungszinsen gegenüber früher kaum verändert, während die Darlehenszinsen als solche in den letzten Jahrzehnten aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase stark gesunken sind.
Dass nahezu alle Banken einen Bereitstellungszins in Höhe von etwa drei Prozent pro Jahr verlangen, sollte nicht dazu führen, einen solchen Zins ohne weitere Prüfung als marktüblich und damit sittenkonform einzustufen. Der Umstand, dass es alle gleichermaßen tun, kann nicht automatisch ein Ausschlusskriterium für die Annahme von Sittenwidrigkeit sein.
Zieht man daher richtigerweise den marktüblichen Darlehenszins als Vergleichsmaßstab für den Bereitstellungszins heran, dann liegt es nahe, zunächst herauszuarbeiten, was der Bank durch die Bereithaltung eines Darlehens an Mehrkosten entstehen, die einen höheren Zins als den Vertragszins rechtfertigen. In erster Linie können das Kosten sein, die der Bank aus der notwendigen Vorhaltung von Liquidität für offene Darlehenszusagen entstehen, also insbesondere Negativzinsen für die Anlage der bereitzuhaltenden Darlehen bei der EZB. Ferner generiert die Bereithaltung eines Darlehens zusätzlichen Verwaltungs- und Steuerungsaufwand, der ebenfalls einen Aufschlag auf den Vertragszins rechtfertigt.
Um die angemessene Höhe von Bereitstellungszinsen zu bestimmen, müssen die der Bank für die Bereithaltung eines Darlehens entstehenden Mehrkosten dem marktüblichen Vertragszins aufgeschlagen werden. Ein Bereitstellungszins von drei Prozent pro Jahr erscheint danach selbst bei Anwendung der relativen 100-Prozent-Grenze des BGH nicht sittenwidrig, weil der marktübliche Vertragszins plus die Mehrkosten in der Regel unterhalb der 100-Prozent-Grenze liegen dürften. Im Übrigen stellt sich generell die Frage, ob in Niedrigzinsphasen an der 100-Prozent-Grenze festgehalten werden kann; es ist offensichtlich, dass diese Grenze vom BGH in Zeiten von Hochzinsphasen entwickelt wurde und – wie vom OLG zutreffend angemerkt – nicht schematisch auf Niedrigzinsphasen übertragbar ist.