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LAG Hessen schränkt Spielraum von Arbeitgebern bei Massenentlassungen ein


Das Landesarbeitsgericht Hessen hat die Vorgaben dazu, welche Informationen ein Arbeitgeber bei Anzeige einer Massenentlassung an die Agentur für Arbeit übermitteln muss, verschärft. Experten zufolge dürfte das vor allem insolvente Unternehmen vor Probleme stellen.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen hat in einem nun bekannt gewordenen Urteil vom 26. Juni diesen Jahres entschieden, dass im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige die Kündigungen der betreffenden Mitarbeiter unwirksam sein können, wenn die Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit zusätzlich zu den sogenannten „Muss-Angaben“ keine sogenannten „Soll-Angaben“ aus dem Kündigungsschutzgesetz enthält. Dies gilt, sofern der Arbeitgeber über diese „Soll-Angaben“ verfügte oder sie sich hätte beschaffen können.

Die Muss-Angaben umfassen den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes, die Entlassungsgründe, die Anzahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Mitarbeiter, die Zahl der Beschäftigten insgesamt, die Kriterien, nach denen die zu entlassenden Mitarbeiter ausgewählt werden, sowie der Zeitraum, in dem die Entlassungen erfolgen sollen. Soll-Angaben“ sind hingegen Informationen über das Geschlecht, Alter, den Beruf und die Staatsangehörigkeit der Mitarbeiter, die entlassen werden sollen. Die Bundesagentur für Arbeit trennt in ihren Formblättern und Handlungsanweisungen bisher ausdrücklich zwischen diesen Angaben.

„Dieses Urteil bedeutet in jedem Fall deutlich mehr Aufwand für Arbeitgeber bei Massenentlassungen, da sie nun viel mehr Informationen beschaffen und an die Agentur für Arbeit übermitteln müssen“, so Sönke Plesch, Experte für Arbeitsrecht bei Pinsent Masons, der Kanzlei hinter Out-Law. „Bei diesen sogenannten 'Soll-Angaben' handelt es sich um Informationen, die nicht zwingend in der Sphäre des Arbeitgebers liegen und die ihm somit nicht immer bekannt sind.“

Wann eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit gestellt werden muss, hängt von der Betriebsgröße und der Anzahl der Mitarbeiter ab, die innerhalb von 30 Tagen entlassen werden sollen. Entscheidend ist, dass die Anzeige bei der Agentur für Arbeit eingereicht wird, bevor die Kündigungen unterschrieben und den betroffenen Mitarbeitern zugestellt sind. Bislang musste die Anzeige jedoch nur die sogenannten „Muss-Angaben“ aus Paragraf 17 Absatz 3 Satz 4 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) enthalten, die sogenannten „Soll-Angaben“ aus Paragraf 17 Absatz 3 Satz 5 KSchG hingegen konnten auf freiwilliger Basis nachgereicht werden, nachdem den Mitarbeitern die Kündigung bereits zugegangen war.

Mit seinem Urteil bricht das LAG Hessen nun mit der bislang gängigen Praxis, das „Soll“ wird zum „Muss“. Das Gericht stützt sich hierbei auf die Massenentlassungs-Richtlinie der EU: Lege man Paragraf 17 KSchG richtlinienkonform aus, müsse der Arbeitgeber auch die Informationen über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu kündigenden Mitarbeiter zumindest dann vor Zugang der Kündigung gegenüber der zuständigen Agentur für Arbeit angeben, wenn er „über die entsprechenden Informationen verfügt oder sie sich beschaffen kann“. Vom Arbeitgeber können laut Urteil „nur solche Angaben [aus Paragraf 17 Absatz 3 Satz 5 KSchG] gefordert werden, die diesem – gegebenenfalls nach entsprechenden Nachforschungen – möglich sind“. Da dies im streitigen Sachverhalt nicht geschehen war, erklärte das Gericht die Massenentlassung für ungültig, und mit ihr die in diesem Zuge an die Mitarbeiter ergangenen Kündigungen. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, es steht dem betroffenen Unternehmen frei, Revision vor dem Bundesarbeitsgericht einzulegen.

„Das Urteil widerspricht der gängigen Praxis, den Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit, der herrschenden Meinung in der Fachliteratur und nicht zuletzt einschlägiger Rechtsprechung“, so Sarah Kappe, Expertin für Arbeitsrecht bei Pinsent Masons. Bei Massenentlassungen sei für Arbeitgeber künftig selbst mit erhöhtem Aufwand kaum Rechtssicherheit zu erlangen, weil völlig unklar bleibe, ab wann dem Arbeitgeber die Beschaffung der fraglichen Informationen möglich ist, wieviel Aufwand der Arbeitgeber in die Beschaffung der Informationen stecken muss und wie lange er gegebenenfalls auf Rückmeldung der Arbeitnehmer bezüglich einzelner Informationen warten muss.

Das Urteil dürfte nach Einschätzung der Experten vor allem Unternehmen in der Krise schwer treffen: „Informationsbeschaffung ist insbesondere bei Unternehmen in der Insolvenz, die zum einen Restrukturierungsmaßnahmen mit hohem Zeitdruck durchführen müssen und bei denen gleichzeitig die interne Organisation häufig nicht mehr einwandfrei funktioniert, sehr schwierig“, so Plesch. Ob in diesen Fällen andere, möglicherweise großzügigere Maßstäbe gelten, bleibe ebenfalls unklar. „Die Massenentlassungsanzeige ist ohnehin schon mit großem formellem Aufwand verbunden, aber gerade bei insolventen Unternehmen werden Restrukturierungen durch sie deutlich erschwert. Im schlimmsten Fall können nichtige Kündigungen aufgrund einer unvollständigen Massenentlassungs-Anzeige eine Übernahme von insolventen Unternehmen und damit die Rettung von Unternehmen aus der Insolvenz verhindern. Es bleibt zu hoffen, dass schnell Rechtssicherheit durch das BAG geschaffen wird und die streitgegenständlichen Angaben weiterhin ‚Soll‘-Angaben bleiben.“ Da das LAG Hessen sich in seinem Urteil jedoch auf EU-Recht bezieht, sei auch eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof möglich, damit dieser eine Vorabentscheidung trifft.

Bis dahin bleibe den Unternehmen, die bei Anzeige einer Massenentlassung möglichst vollständige Rechtssicherheit erlangen wollen, nichts anderes übrig, als auch die nicht vorliegenden „Soll-Angaben“ der betreffenden Arbeitnehmer zu erforschen und der zuständigen Agentur für Arbeit unmittelbar im Zuge der Anzeige ebenfalls mitzuteilen. 

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